Astrid
Der Tod ist der wichtigste Ratgeber.
Wie komme ich dazu, mich noch weit jenseits der Lebensmitte mit dem Gestalten meines Grabsteins - und natürlicherweise damit verbunden - mit meinem oder DEM Tod zu beschäftigen?
Ich habe schon seit Jugendzeiten eine Affinität zu diesem Thema. Als Jugendliche (und bis heute) ging ich manchmal auf einen Friedhof, meist alleine, weil ich an diesem Ort ein ganz bestimmtes Gefühl hatte. Zum einen bestand dieses Gefühl aus einem ungewissen Sehnen, aus heutiger Sicht würde ich es Todessehnsucht nennen. Es ist so eine Vorstellung, im Tod wieder eins zu sein mit allem, nicht mehr getrennt zu sein, von allen Problemen und der Qual des Irdischen, des Materiellen erlöst zu sein. Zum anderen war an diesem Ort immer eine Ruhe und Ernsthaftigkeit zu spüren, die mir gut tat. Damals war mir noch nicht klar, warum es mich dort hinzog, aber es war wohl in den verwirrenden Jahren der Adoleszenz, wo man sich mit nichts mehr auskennt, und nur noch zweifelt oder verzweifelt, die Klarheit, die mich anzog. Die Klarheit und Einfachheit angesichts des Todes, die viele Dinge relativiert, komplizierte Konflikte in Beziehungen auf das Wesentliche herunterbricht und einen die Liebe zu den Menschen und zum Leben wieder spüren läßt und letztendlich wieder die Liebe zu sich selbst und damit verbunden, Hoffnung für das Leben hervorbringt. Was in der Stille eines Friedhofs passiert, ist automatisch Meditation. Ein in die Mitte kommen, zu sich selbst kommen, und das Wesentliche wieder finden.
Einige Jahre später fand ich mich dann in einem Steinmetzbetrieb arbeitend wieder auf dem Friedhof, diesmal mit einem ganz anderen Gefühl. Es war die Normalität angesichts des Todes, die ich dort erlebte. Man tut ganz alltägliche Dinge, die einem zuerst pietätlos erscheinen, man arbeitet, man gräbt in einem Grab das Fundament für einen Grabstein und setzt diesen möglichst gerade ein, man schwitzt im Sommer und friert im Winter, man vespert im Schatten und reißt Witze mit dem Friedhofswärter. Darf das sein? Darf man lustig sein angesichts des Todes, angesichts der Trauer der Hinterbliebenen, die dort viel zu finden sind?
Darf man weiterleben, wenn doch andere sterben?
Ich stellte fest, dass immer noch eine gewisse Intensität zugegen war, die ich als Jugendliche schon spürte. Die Trauer der Hinterbliebenen war sehr spürbar, der eigene Körper mit seinen Bedürfnissen war dort präsenter, die Witze waren dort deftiger und auch Streit unter den Arbeitskollegen war irgendwie heftiger. Mir gefiel das. Ich mochte die Intensität der Gefühle, die sich vom lauen Alltag abhob. Irgendwie ist man in der Nähe des Todes näher am Leben.
Was mich auch zutiefst berührte, war die Auseinandersetzung mit den Angehörigen um einen Grabstein. Dies ist ein intensiver Prozess, der oft genutzt wird, um einen Rückblick auf die Beziehung zum Verstorbenen zu werfen. Sein Leben wird rekapituliert, seine Vorlieben, seine Persönlichkeit, manchmal auch seine Schwächen oder Schwierigkeiten, es geht um eine Essenz des gelebten Lebens. Die Trauer der Hinterbliebenen wird betrachtet, der Schmerz des Verlustes. Der Grabstein wird zu einer Verbindung zwischen Gegangenem und Gebliebenen. Und auch darin gibt es eine Essenz. Der Grabstein ist ein Symbol. Der Stein als Material versinnbildlicht Ewigkeit und Unvergänglichkeit. Der Tod löst Ohnmacht aus, der mit dem "Unvergänglichen" etwas entgegengesetzt wird. Man könnte dies auch als einen Versuch der Kontrolle über die Unausweichlichkeit verstehen.
In meiner Geschichte hat mich die Beschäftigung mit dem Grabstein und was das mit sich bringt, zu meinem jetzigen Beruf der Kunsttherapeutin geführt. Ich nahm das Potential der persönlichen Auseinandersetzung mit Gestaltung wahr und wollte mehr als nur die rein formale Herstellung von Gegenständen oder Kunst. Mich interessiert die Auseinandersetzung mit dem Material, mit der Technik, mit der Form in Verbindung mit der persönlichen Geschichte, mit dem Menschlichen darin. Mich interessiert das Ringen um das Herausbringen des Inneren ins Äußere. Es ist sozusagen die Verbindung von Kopf und Herz, die die Hand ausführt. Es ist auch eine Verbindung von etwas Übergeordnetem mit dem Persönlichen, das sich ausdrücken will.
Als ich von Clavigo eingeladen wurde zur Grabsteingruppe war es überhaupt keine Frage sofort mitzumachen. Hier findet sich die Verknüpfung von mehreren Stationen und Interessen meines Lebens. Die Intensität der Gefühle. Angst, Ohnmacht, Nicht-Wissen, was auf der anderen Seite kommt. Neugier. Die Klarheit, die der Tod mit sich bringt. Was ist wichtig? Liebe. Lebenslust. Die Auseinandersetzung mit dem Leben. Was habe ich bisher getan, was will ich noch tun? Diese Auseinandersetzung mit der Trennung, was bleibt von mir, wenn ich gehe? Was hinterlasse ich? Und das alles in einem formalen Ringen, wie kann ich das darstellen? Wie kann ich die Essenz all dieser Auseinandersetzung in einem Stein verkörpern? Ist das überhaupt möglich? Ist das überhaupt nötig? Will ich das überhaupt? Oder ist es am Ende gar nicht mehr wichtig? Wofür steht dieser Stein? Als Erinnerung? Als Verbindung? Als Zeichen? Als Meditation für Nachkommende?
Ist die Materie an sich nicht einfach nur eine Hülle für das Eigentliche? Ich setze den Stein als Materie gleich mit dem Ich, das während der Dauer dieses meines Lebens mit einem Körper dem Eigentlichen, Unermesslichen dem Lebendigen, ein Zuhause ist, um sich zeigen zu können. Darum wählte ich das Symbol einer Amphore. Ein Gefäß, das etwas in sich fasst. Das Gefäß ist dem Zerfall alles Materiellen unterworfen, der Vergänglichkeit. Wenn es zerbricht, fließt der unvergängliche Inhalt heraus und sucht sich eine neue Form. Soweit stehe ich heute in meiner Geschichte. Ich freue mich auf die Fortführung dieses Prozesses, meiner Auseinandersetzung mit dem untrennbaren Paar Leben und Tod und dem formalen Ausdruck darin.
Astrid Hochbach 31.12.2008
"Wer den Tod verstehen will, muss erst das Leben verstehen"
Jiddhu Krishnamurti
In der Beschäftigung mit dem Tod komme ich aufs Leben. In der Auseinandersetzung mit dem Leben komme ich zum Tod. Mein Grabstein, bei dessen Herstellung ich mich mit dem Tod beschäftige, ist ein Lebensstein. Dieser Lebensstein soll mein Grabstein sein. Auf meinem Grab soll nicht die Darstellung meines Todes sichtbar werden, sondern das Buhen des gelebten (im Moment noch lebenden) Lebens. Jeweils der derzeit in Arbeit befindliche Stein kann im Falle eines unerwarteten Ablebens als Grabstein genommen werden.
Tod und Leben als zwei Pole ein und desselben, untrennbar. Geborenwerden als sterben in etwas Neues hinein. Wo hinein werden wir geboren, wenn wir sterben?
Wie kann ich diese Pole integrieren, wie den Tod bewusst ins Leben nehmen als ständige Übung, wie Ein- und Ausatmen. Loslassen und Anfangen. Verabschieden und Willkommen heißen. Wenn es gelänge, wäre das nicht ein ständiges Neu-sein? Würde das nicht eine völlig neue Sicht auf die Welt ermöglichen? Eine ganz andere Haltung bewirken? Ein sich-ständig-neu-einlassen und infolge dessen ein permanentes vollkommen-da-sein? Ein gegenwärtig-sein? Der Tod macht die Präsenz des Lebens schärfer. Wenn ich mich vom Alten, Vergangenen, Toten trenne/scheide hat das Neue, Kommende, Lebendige mehr Platz in mir und kann sich besser entfalten.
In meinem Lebensstein sind verschiedene Stadien des Blühens in Form von vier Blütenständen symbolisiert. Von der Knospe bis hin zur in aufrechter Haltung, in voller Kraft dastehender, voll aufgeblühter Mittelfigur, die noch nicht voll ausgestaltet ist. Geschützt durch ein mantelförmiges Blatt taucht wie aus einem Kragen eine noch nicht definierte innere Form auf. Was entblättert sich da? Intendiert ist eine im Gegensatz zur kraftstrotzenden äußerlichen Form, zarte und filigrane Innenform. Sie stellt die gleichermaßen starke wie empfindsame Lebendigkeit des Lebens dar. Der "Kragen" wirkt wie ein aufnehmendes Organ, das zugleich das im Innern befindliche schützt. Das Blühen ist eher etwas nach außen Gerichtetes. Die Blüte blüht einfach aus sich heraus ohne sich darum zu kümmern, ob es wahrgenommen wird oder nicht, und strahlt dabei Würde aus. Sie hat ihr volles Potential entfaltet und ist sich selbst damit genug.
Dies ist der Moment der vollen Pracht, des alles-gebens, gewissermaßen der Zenit, ab dem es dann kippt ins Andere, ins Sterben, ins Vergehen.
Kann das auch schön sein? Kann das auch Würde ausstrahlen?
4.10.2010
"Erwachen"
Die Entmaterialisierung ist im letzten Jahr immer stärkerer zum Thema geworden.
Will ich Spuren hinterlassen?
Weniger materialistische, es gibt genug Müll, den das Ego der Menschen hinterlässt. Aber vielleicht "geistige"? Eine Aussage?
Wozu brauche ICH einen Grabstein? Ist es nicht nur mein Ego, das über seinen Tod hinaus noch wichtig sein möchte, das Zeichen hinterlassen möchte dass es das war?
Was den Tod betrifft, so beschäftigen mich zwei Dinge: Kann man das Sterben üben? Das Prinzip Tod findet man in allen Dingen, jeder Moment stirbt und vergeht, so dass man permanent loslassen muss. Das Loslassen und ins Neue, Unbekannte sich hinein vertrauen scheint mir der eine Pol zu sein. Das Ego kämpft mit allen Mitteln, um nicht aufgeben zu müssen.
Der andere Pol ist die letzte absolute Einsamkeit, die der Tod bringt. Dorthin kann niemand folgen, dort ist man unwiederbringlich allein.
Einsamkeit ist wohl das unangenehmste Gefühl, dem die meisten Menschen mit vielen Handlungen zu entkommen versuchen. Wenn ich meine Aktionen und Reaktionen im Alltag zurückverfolge, dann lande ich am Ende immer bei der Vermeidung des Verlassen-Werdens und der Einsamkeit.
Sterben ist Verlassen Verlassen und verlassen werden haben die selbe Energie, fühlen sich gleich an. Im Sterben werde ich also auch verlassen, bin ich verlassen von allem. Verlassen kann ich nur gut, wenn ich das verlassen sein nehmen kann. Hat nicht Jesus am Kreuz ausgerufen: Vater, warum hast du mich verlassen?
Loslassen ist Freiheit. Loslassen von Materie, die bindet, erleichtert. Das Ego überwinden ist Befreiung ins Gemeinsame, ins All-Eins hinein, bringt Glückseligkeit.
Was mache ich nun also mit dem Grabstein? ich bin schon seit längerem in der Krise mit dem Bildhauern, hinterlasse ich nicht nur Ego-Müll? Und dann auch noch Steine, die Ewigkeiten Überdaueren! Auf der anderen Seite gibt es durchaus Kunst, die mich berührt, die kein Ego-Müll zu sein scheint, sondern "Geist" transportiert. Darin erkenne ich etwas vom Gemeinsamen, eine Entwicklung, die alle weiterbringt. Kann ich so etwas schaffen? Kann ich einen Stein schaffen, der nicht nur selbstgefälliges "Geschwätz" ist, sondern eine Aussage, die einen Nerv trifft?
Ich benutze das Bildhauen zur Selbsterkenntnis und in diesem Fall zur Auseinandersetzung mit Tod und Leben. Es ist mir eigentlich nicht wichtig, einen Grabstein auf ein Grab zu stellen. Es würde mich mehr interessieren, einen Grabstein auf das Grab mir wichtiger Menschen zu stellen, die gestorben sind, als Zeichen meiner Liebe zu ihnen, aber mein eigenes Grab ist mir nicht wichtig. Ich glaube, wenn die fleischliche Hülle zerfällt, ist der Geist schon längst woanders. Allein meinen Nachfahren könnte es wichtig sein, einen Ort zu haben, an dem sie sich an mich erinnern können. Also, könnte ein Grabstein, den ich schaffe und auf mein Grab stelle, auch ein Zeichen meiner Liebe zu den Verlassenen sein? Eine Aussage, die "Geist" hat? Eine Lebens-Erkenntnis, die ich hinterlassen möchte, die nicht aus dem Ego kommt? Ist das überhaupt möglich??
Solange ich das nicht geklärt habe, arbeite ich mit großer Freude an meinem Lebensstein weiter, den ich inzwischen "Erwachen" getauft habe. Das Erwachen des Bewusstseins von der Knospe hin zur voll erblühten Frau, sich entwickelnd, auswickelnd, das eigene Wesen suchend und erkennend, die Welt sinnlich wahrnehmend und aufnehmend, überflüssige Materie abwerfend und loslassend, so dass das Wesentliche sichtbar wird.
04.10.2014