Klaus
Ich bin der Älteste in der Grabsteingruppe. Unser jüngstes Mitglied ist gerade einmal so alt wie meine Älteste Tochter. Für mich steht aller statistischen Wahrscheinlichkeit nach der Grabstein als erster an - und im Gegensatz zu meinen Bildhauerfreundinnen und -freunden ist bereits klar, dass ich gar keinen Grabstein bekommen werde. Mein ”Grabstein” wurde eine Skulptur für den Büsinger Bergkirchenfriedhof.
Friedhof Büsingen
Wie kam es dazu? Als ich, zu Beginn unserer Zusammenarbeit 2006, unseren damaligen Bürgermeister Gunnar Lang um eine Friedhofsordnung bat, meinte er: "Du siehst, laut Friedhofsordnung bleibt Dir nicht viel Gestaltungsspielraum - die Maße der Steine und die Steinarten sind ziemlich festgelegt. Vorgeschriebene Länge mal Breite mal Höhe lassen wenig Spielraum für Individualität. Musst Du denn einen eigenen Grabstein haben? Wenn Du eine Skulptur für den Friedhof machen würdest, hättest Du alle Freiheiten." Die Frage traf mich zunächst wie ein Blitz - hatten wir uns doch kurz zuvor auf unsere "persönlichen" Grabsteine eingeschworen. Nach kurzer Überlegung und einer Anrufrunde bei meinen Kindern wurde mir klar: Nein, ich brauche keinen eigenen Grabstein. Ich werde mich sowieso sinnvollerweise in ein Urnen-Reihengrab legen lassen, das von der Gemeinde gepflegt wird. Meine Nachfahren wohnen weit weg und wären lange mit einem kostspieligen Pflegeauftrag belastet.
Am nächsten Morgen sagte ich zum Bürgermeister: ”Ich nehme Deinen Vorschlag an”. Ich entwickelte eine Projektidee für eine Skulptur im Öffentlichen Raum des Friedhofes, den ich im Gemeinderat vorstellte. Nach diversen Photoshop-Simulationen fertigte ich ein Gipsmodell an. Eine vierköpfige Kommission des Gemeinderates trug es mit mir zusammen über den ganzen Friedhof und fand einem sehr sorgfältigen Suchprozess den geeigneten Platz. Ich bekam die schriftliche Genehmigung, die Skulptur an diesem "besten Ort" aufstellen zu dürfen - auch über die Amtszeit des derzeitigen Gemeinderates hinaus. Danach tat das Gipsmodell noch lange Zeit Dienste als “Zwergenberg” in einem Kindergarten, bevor es zerbröselte.
Simulation 1 Simulation 2
Gipsmodell am endgültigen Standort Zwergenberg
Dieser Vorlauf setzte einen über acht Jahre sich spannenden künstlerischen Schaffensprozess in Gang. Die Klarheit meines Entschlusses speiste sich auch aus der Tatsache, dass die Skulptur schon Gestalt geworden war. Bereits im Jahre 2002 formten meine Hände, bei geschlossenen Augen, als Antwort auf die Aufgabe, das innere Bild von "Erleuchtung" oder "Befreiung" dreidimensional werden zu lassen, die abgebildete Gestaltung. Dieses Geschehen, das in meiner Meditationsgruppe stattfand, wurde in seiner eindrucksvollen Intensität abgerundet durch einen nachfolgenden Rakubrand. Die dort entstandene, etwa 10 cm hohe Gestalt "war es". Sie stimmte.
Urform der Erleuchtung
Wie ich lange glaubte, gibt es diese Form im Figurenkanon der westlichen Kunstgeschichte bisher nicht; es ist also wirklich "meine" Gestalt, ich habe meinen eigenen Ausdruck gefunden. Darin unterscheidet sie sich von den allermeisten meiner Skulpturen, an denen ich fast immer mehr oder weniger deutliche Assoziationen zu Werken der Meister finde, weshalb viele auch mit "Hommage an..." betitelt sind. Allerdings machte mich bei der Einweihung Martin Timm (vgl. “Es begann mit einem Senryu”) darauf aufmerksam, dass ich doch eine abstrakte Figuration der von Michelangelo konzipierten und im Manierismus häufigen “€žfigura serpentinata” gestaltet hätte.
Ich verfertigte mehrere Vorstudien in verschiedenen Materialien, um die Kleinplastik in eine große umzusetzen - jedes Mal entstand eine je eigenständige Charakteristik der Grundform.
Variante 1 Variante 2 Variante 3
2008 habe ich bei einem befreundeten Händler in Kreuzlingen einen Stein gefunden, der im Frühjahr 2009 nach Zainen transportiert wurde, wo ich am 09. 06. 2009 den ersten Schlag an diesem 1,8 Tonnen schweren französischen Kalksandstein tun konnte.
französischer Kalksandstein konturgesägter Block der erste Schlag
Seitdem habe ich 59 Tage daran gearbeitet - mit Sprengeisen, Spitzeisen, Zahneisen und Flacheisen, mit Trennscheibe und Druckluft, mit Schleifkopf und Schleifscheibe - wo möglich per Hand, dennoch mit viel Maschinenhilfe. Sandige Quarzstreifen mussten versiegelt und etliche technische und formale Probleme gelöst werden. Es zeigte sich, dass eine einfache Vergrößerung des Modells nicht funktionierte. Einen Durchbruch habe ich erwogen und wieder fallen gelassen.
Schließlich kam mir Hieronymus Bosch zu Hilfe: Auf mehreren seiner Bilder ist Transzendenz dargestellt durch eine Art Röhre, die durch einen anderen Körper hindurchgeht - dieses Motiv habe ich übernommen. Die innere Form hat sich seit der damaligen Meditation weiterentwickelt, war nicht mehr dieselbe geblieben, die sie einmal war. Ich musste sie neu erfinden.
Hieronymus Bosch, Aufstieg
Die Skulptur zeigt die Momentaufnahme einer Bewegung bzw. mehrerer Bewegungen. Bewegung ist immer auch Drehung, und eine der Bewegungen in der Skulptur führt, ausgehend vom Sockel gegen den Uhrzeigersinn vertikal nach oben und zurück, verbindet Himmel und Erde. Wachstum, Entfaltung, Leichtigkeit und Leben auf der einen, Verwurzelung, Schwere und Tod auf der anderen Seite.
Die andere Bewegung verläuft horizontal, wiederum in einer spiraligen Kreisbewegung um die gefüllte Mitte im oberen Teil der Skulptur im Sinne einer Verbindung zwischen Innen und Außen, zwischen der Welt, dem Kosmos, dem Du - und dem Ich, dem ureigenen inneren Wesen. Im Spannungsfeld dieser beiden Bewegungen und den Räumen, die sie einbeziehen, befindet sich der Mensch.
Bei diesem Prozess hat die Grabsteingruppe, an erster Stelle Clavigo Lampart, der dem Stein die obige Deutung gab, unendlich wertvolle Hilfestellungen gegeben. Eine Fotomontage aus verschiedenen Schaffensphasen finden Sie auf der Collage. Der Transport der fertigen Skulptur von Zainen nach Büsingen war eine technische Herausforderung, für die ich vielen Beteiligten von Herzen danke.
Transportgestell, Transport
Transport/Aufstellung fertige Skulptur am Standort
Am 05. 07. 2015 ist dieser sechsjährige Arbeitsprozess mit der feierlichen Enthüllung zu einem Ende gekommen.
Siehe Martin Timm - FotoProjekt zu Klaus Antons` Grabstein-Skulptur
Zum Schluss einige Worte dazu, wieso ich mich zu Lebzeiten so intensiv mit meinem Ableben befasse. Friedhöfe fand ich schon immer ganz besondere Orte, zu denen es mich hinzog. In den Achtzigern entstand eine große Fotoserie in schwarz-weiß über schmiedeeiserne Grabkreuze auf Tiroler Friedhöfen, später eine Diaserie über provencalische Friedhofskultur. Seit meiner Begegnung mit dem Buddhismus ist der Bardo Thödol, das so genannte tibetische Totenbuch, ein wichtiger Begleiter meines Lebens geworden - auch zu ihm gibt es fotografische und schriftliche Auseinandersetzungen.
Ich habe schon vor Beginn unserer Grabsteingruppe die Erfahrung gemacht, dass ich das Leben intensiver genießen kann, wenn ich diese Tatsache nicht aus dem Leben verbanne: dass ich mit Sicherheit sterben werde, aber dass ich nicht wissen kann, wann das sein wird. Mors certa, hora incerta, gilt seit der Scholastik. Mir hilft der buddhistische Grundsatz: das Leben zu nutzen, zu üben, um auf diesen Moment vorbereitet zu sein. Die Arbeit an meiner Friedhofsplastik, zusammen und in der lebendigen Auseinandersetzung mit den Gruppenmitgliedern, war für mich eine solche Übung.