Präambel
Arbeit am eigenen Grabstein
Wann genau die Idee zur bildhauerischen Arbeit am eigenen Grabstein in mir gekeimt ist, kann ich nicht mehr genau sagen. Eine gedankliche Wurzel ist sicherlich die Lektüre von Georges Bataille in den 80er Jahren zum Themenkomplex Erotik, Todesbewusstsein und Kunst. Demnach gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen dem Erwachen des Todesbewusstseins bzw. des Bewusstseins schlechthin und dem Beginn künstlerischer Aktivität unserer Vorfahren als Versuche der Bewältigung des Herausfallens aus der Einheitswirklichkeit. Die Paradiesgeschichte mit Adam und Eva mag zeigen, dass durch den Biss in den Apfel der Erkenntnis auch die Erotik hier ihren Ausgangspunkt hat: das Bewusstsein des eigenen Todes und die bewusste Wahrnehmung der sexuellen Begierde als schöpferischer Urgrund für die geistig-seelische Entwicklung des Menschen zu einem kulturerschaffenden Wesen. Dieser Gedanke, in Verbindung mit Freuds Theoriemodell von Eros und Thanatos, hat mich beschäftigt.
Tatsächlich machte ich meine erste praktische Bekanntschaft mit dem Naturstein als künstlerischem Ausgangsmaterial ganz in der Nähe und mit Besuchen der von Bataille in "Die Tränen des Eros" beschriebenen Höhlen von Lascaux.
Meinen ersten und bisher einzigen Grabstein gestaltete ich 2003 für das Grab meiner Eltern. Hier stand weniger die gestaltete Form des Steins im Vordergrund als der gestalterische Akt, einschließlich der Steinsetzung in der Bedeutung einer klaren Zäsur und Grenzziehung zwischen mir, als dem (Weiter-) Lebenden und den beiden Toten. Der Grabstein hat in dieser Installation die Bedeutung eines Wächters, der die Grenze zwischen dem Totenreich und dem der Lebenden bewacht und verschlossen hält.
Die Steinarbeit rückte in den vergangenen fünf Jahren bei meiner gestaltungstherapeutischen Arbeit immer weiter in den Mittelpunkt und bildet mittlerweile in nahezu allen Selbsterfahrungsprozessen, die ich begleite, eine Art "essentiellen Strang", um den herum sich das übrige Gestalterische und das gruppendynamische Geschehen ranken.
Die Verbindlichkeit der Wahl eines eigenwilligen, zumeist nicht idealen Steins, das oft mühsame Arbeiten gegen Widerstände, die Unumkehrbarkeit jeder Entscheidung und jeder Handlung, die
kontinuierliche Abnahme des Materials und das sich Vorarbeiten und Freilegen einer inneren Form in der Bedeutung eines wesentlichen Kerns: Das alles zusammen bildet eine vielschichtige Metapher für die Lebenswirklichkeit des bildhauernden Menschen auf der Suche nach sich selbst, im Rahmen der Gestaltungstherapie. In der Steinarbeit, anders als in der Malerei, ist das Ergebnis nicht einseitig das Resultat eines eigenen schöpferischen Akts, sondern es beinhaltet außerdem die Bewältigung eines vorgefundenen und gewählten, nur oberflächlich wahrzunehmenden, fremden Objekts, das der Bildhauer wohl einerseits aktiv umgestaltet, das ihm andererseits aber auch zum Schicksal wird. Dieser von außen gesetzte "schicksalhaft" Aspekt in der Steinbildhauerei hat mich von Anfang an besonders fasziniert. Die Geschichte von Klausens erstem Stein, der immer so seltsam geklungen hat, ihn bei der Bearbeitung hat sehr vorsichtig und kontrolliert sein lassen - und wie dann erst beim Polieren der Riss plötzlich sichtbar wurde, der quer durch den ganzen Stein ging, hat mich tief berührt. Diese Geschichte steht für mich im Zusammenhang mit dem Vorhaben von Michelangelo, der eine Pieta für sein eigenes Grab in Marmor gestalten wollte.
Bekanntermaßen ist sein Projekt gescheitert, weil er, trotz großer Sorgfalt in der Wahl seines Materials, einen Stein genommen hatte, der, wie sich später zeigte, rissig war, so dass ihm die eigene Arbeit unter den Händen zerbrach. Bei keiner anderen Arbeit ist ihm das passiert.
Die Besichtigung des Originals dieser, von einem seiner Schüler schließlich fortgeführten, aber nie vollendeten Arbeit im Sommer 2006 im Dom-Museum in Florenz hat mich zu der Entscheidung gebracht, umgehend mit dem Projekt der Arbeit am eigenen Grabstein zu beginnen und einen Termin festzusetzen.
Meiner spirituellen Grundüberzeugung zufolge bringt einen Menschen nichts so sehr dem Leben näher als die Auseinandersetzung mit seiner eigenen Sterblichkeit und dem Tod. Die Arbeit am eigenen Grabstein ist deshalb für mich nicht die Arbeit an Todessteinen, sondern es ist die Arbeit an Lebenssteinen Ich wünsche mir und uns allen, dass wir im Zuge unserer gemeinsamen Arbeit, die ja durchaus auch den Aspekt der Vorbereitung auf das Sterben hat, noch lebendiger werden, als wir schon sind.
Clavigo Lampart 27.2.2007